„Ich weiß jetzt, wie ihr rechnet“
Wir freuen uns sehr, dass Frank Haub aus Remagen sich bereit erklärt hat, öfters aus seiner Praxis zu berichten. Wir haben Herrn Haub auf der Fachtagung des EÖDL kennengelernt, wo er einen Vortrag über „Effiziente Didaktik für das Symptomtraining dyskalkuler Kinder“ hielt. Herr Haub ist Diplom-Informatiker und Diplomierter Dyskalkulietrainer. Er hat eine Praxis in Remagen, wo er dyskalkule Kinder unterstützt. Frank Haub bietet auch Vorträge zum Thema Dyskalkulie an sowie Fortbildungen für Lehrkräfte. Weitere Informationen finden Sie auf seiner Internetseite: www.dys-remagen.de
„Ich weiß jetzt, wie ihr Erwachsene rechnet“
Text: Frank Haub
Aaron war auch im Supermarkt. Ich hatte ihn schon zwischen den Regalen herumspringen sehen und als er mich aus der Ferne erkannte, versteckte er sich eilig hinter einer Regalecke, an der ich wohl demnächst vorbei musste. Aaron ist ein Junge aus der Nachbarschaft. Er ist fast sieben Jahre alt und besucht das erste Schuljahr der Grundschule. Vor einigen Monaten wurde ich von seiner Mutter angesprochen, die von meiner Tätigkeit als Dyskalkulietrainer wusste. Sie zeigte mir eine Klassenarbeit. Es ging um einfache Additions- und Subtraktionsaufgaben im Bereich bis 20. Bis auf zwei Ausnahmen war keine Aufgabe richtig gelöst und Aarons Resultate wichen konsequent um eins von der gesuchten Lösung ab. – Ein typisches Symptom für Kinder, die zählend ihre Ergebnisse ermitteln und beim Zählen bereits die Ausgangszahl mitzählen. 5 plus 3 ermitteln sie in drei Zählschritten „Fünf, Sechs, Sieben“, wobei sie die letztgenannte Zahl als Ergebnis mutmaßen, also Sieben (Anm.: 5+3 ist im Übrigen 8). Damals bot ich der Mutter eine AFS-Diagnose an, die den Zeitpunkt allerdings für verfrüht hielt.
Jetzt aber näherte ich mich der Ecke und Aaron sprang hervor, laut „Buh!“ rufend. Ich erschreckte mich für ihn höflich und er freute sich mächtig. Ein zweites „Buh!“ von hinten erschreckte mich tatsächlich. Es war seine Mutter, die gleich ansetzte: „Jetzt kann er es. Er rechnet jetzt alles richtig!“. „Ja,“, fügte Aaron hinzu, „ich weiß jetzt genau wie ihr Erwachsenen rechnet!“. Ich war überrascht. Rechnen wir Erwachsenen anders? Das machte mich stutzig und ich stellte mich dumm. „Wie rechnen wir denn?“ „Du müsstest das doch wissen“, sagte Aaron frech, „Wenn ihr 5+3 hinschreibt, dann meint ihr eigentlich 6+3. Siehst du:“ – er holte sein Zählwerkzeug, die Finger hervor – “Sechs plus Drei: Sechs, Sieben, Acht. Bei 5+3 muss ich also 8 als Ergebnis hinschreiben, das Ergebnis von 6+3.“
Aaron rechnete oder zählte demnach keineswegs richtig. Er hat seine alte Rechenweise, das Zählen inklusive der Ausgangszahl beibehalten. Da dies ihm aber keine Erfolge bescherte, hat er eine Fehlerkompensation erfunden und benutzt sie fleißig. So, wie ein Kurzsichtiger, der eine Kontaktlinse verwendet, damit in der Umwelt nicht mehr auffällig wird, obwohl seine eigentliche Sehleistung sich nicht gesteigert hat, ist Aaron nun auch gewappnet. Kein Außenstehender merkt nun mehr sein Missverständnis bezüglich des Zählens, denn selbst wenn er es mit Fingern vorführt und laut ausspricht, erscheint alles in Ordnung, solange Aaron nicht erwähnt, dass er zunächst zu der 5 heimlich eine Zahl weiterzählt. Noch so gewiefte standardisierte Tests, die fast alle quantitativ ausgerichtet sind, können diese Fehlleistung entlarven.
Manch einer mag sagen, macht doch nichts, solange das Ergebnis richtig ist, aber spätestens beim Nachstellen der Aufgabe mit Material, eine Vorstufe zu Textaufgaben, wird er in Erklärungsnot geraten. Meiner Meinung nach muss man solche Missverständnisse frühzeitig ausmerzen, bevor sie sich als Kompensationsstrategie im Kopf des Kindes verankern und dann nur noch schwer herauszulösen sind.
Aber wie erkennt man so etwas? Das Studieren alter Klassenarbeiten, die Befragung der Eltern oder das reine Vorführen würde Aarons Missverständnis nicht zu Tage treten lassen. Erst eine ausführliche qualitative Diagnose, in der jeder einzelne Kompetenzschritt der Mathematik in einem Interview mit dem Kind abgeklopft wird, wird seine kompensierende Rechenweise offen legen. Ich füge daher in die AFS-Diagnose des EÖDL noch vor Ausfüllen der Fragen zu den symptomatischen Auffälligkeiten eine detaillierte qualitative förderdiagnostische Untersuchung an, mit der ich den Ansatzpunkt für das Training heraus kristallisieren und den Lehrern einen genauen Bericht über die mathematische Kompetenz des jeweiligen Kindes darlegen kann.
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